Ein Streitthema: Schiedsrichter und das "Fingerspitzengefühl" - anpfiff.info
Artikel veröffentlicht am 10.12.2020 um 06:00 Uhr
Ein Streitthema: Schiedsrichter und das "Fingerspitzengefühl"
Johannes Gründel ist Schiedsrichter und Lehrwart der Forchheimer Referees. Im Gespräch mit anpfiff.info erklärt er, welche Mythen über das "Fingerspitzengefühl" über die Sportplätze geistern und wie viel Raum ein Unparteiischer für Bewertungen einer Spielszene hat.
Von Uwe Kellner
Guten Tag Herr Gründel, es kommt immer wieder zu Aussagen, wie „Mit ein bisschen Fingerspitzengefühl hätte der Schiedsrichter die gelbe oder rote Karte auch weglassen können“ oder „Mit ein bisschen Fingerspitzengefühl hätte man den Elfmeter nicht pfeifen brauchen“, oder ähnliches. Heute starten wir mit einer provokanten Frage: die Bezeichnung „Fingerspitzengefühl“, ist das eine Erfindung der Trainer/Zuschauer/Spieler, um regelkonforme Entscheidungen eines Schiedsrichters dennoch kritisieren zu können?
Johannes Gründel: Teils teils. In Situationen, in denen der Schiedsrichter einen Bewertungsspielraum hat, kann man durchaus auf Fingerspitzengefühl hoffen, aber das vom Schiedsrichter nicht verlangen, weil die härtere Entscheidung eben auch regelkonform ist. Die Frage, wie hart der Schiedsrichter seine Entscheidung trifft, ist ja erst einmal seine Entscheidung und Kernkompetenz. Aber auch diese Hoffnung hat Grenzen, nämlich wo das Regelwerk dem Schiedsrichter keine Wahl mehr lässt.

Ich hatte mal ein Spiel als Assistent, bei dem ein Spieler danach im anpfiff.info-Interview vom Schiedsrichter verlangt hat, er soll sich da doch mal über das Regelwerk hinwegsetzen. Ich konnte den Spieler in der Situation verstehen, weil in dem Spiel zwei Szenen zusammengekommen sind, die wegen des Regelwerks unterschiedlich zu lösen waren, obwohl sie von den Spielauswirkungen her ähnlich waren. Aber sich über das Regelwerk hinwegsetzen, geht gar nicht – erst Recht nicht bei einer schwerwiegenden Entscheidung wie bei einer Roten Karte, um die es in dem Fall ging. Zum einen weil das völlig willkürlich wäre und wir doch zumindest das Regelwerk als gemeinsame Grundlage für unser Spiel haben sollten, zum anderen weil wir Schiedsrichter dann auch vom Beobachter auf den Deckel bekommen – und das völlig zu Recht.
Vor allem ist es aber auch unfair der anderen Mannschaft gegenüber, die das Opfer eines rotwürdigen Fouls wurde und durch das vermeintliche Fingerspitzengefühl um eine Überzahl gebracht wird, die ihr nach dem Regelwerk eigentlich zwingend zusteht.

Ein weit verbreiteter Mythos ist übrigens: „Da hätte der Schiedsrichter eine letzte Ermahnung setzen müssen!“. Solche „letzten Ölungen“ sind nicht gerne gesehen, weil man durch die ganze Abwicklung einen gewissen Erwartungsdruck Richtung Platzverweis aufbaut und sich gleichzeitig für die nächste Aktion unter Druck setzt. Da ist es besser, die letzte Ermahnung unauffällig im Vorbeigehen auszusprechen und vielleicht noch den Kapitän oder Trainer der Mannschaft zu informieren, dass der Spieler kurz davor steht, für alle schon einmal die Duschtemperatur zu testen.

Wie würden Sie Fingerspitzengefühl im Alltag eines Schiedsrichters definieren, in welchen Situationen ist Fingerspitzengefühl sogar erwünscht und in welchen ist es komplett Fehl am Platz?
Johannes Gründel: Ein ehemaliger hochrangiger Schiedsrichterfunktionär hat einmal gesagt „Fingerspitzengefühl ist die Angst vor der Entscheidung“. Das taugt natürlich nicht wirklich als Definition, verdeutlicht aber gut die Situationen, in denen häufig Fingerspitzengefühl gefordert wird, obwohl es das Regelwerk nicht hergibt. Wenn ich jetzt aber die Situationen definieren will, in denen Fingerspitzengefühl zulässig ist, würde ich sagen: „Fingerspitzengefühl ist die sinnvolle Ausübung des Ermessensspielraums mit Blick auf den Spielverlauf und das Spielverständnis nach dem Motto: Was will der Fußball?“

Darum geht es beim zulässigen Fingerspitzengefühl: Wenn ich als Schiedsrichter einen Ermessensspielraum habe (aber auch nur dann!), dann sollte ich die Entscheidung so treffen, wie es für das Spiel und die Sportart Fußball am besten ist. Ein guter Schiedsrichter zeichnet sich dadurch aus, dass er seine Entscheidungen im Rahmen des Regelwerks daran orientiert, was dem Spiel guttut. Das ist manchmal ein schwieriger Spagat, weil man als Schiedsrichter einerseits das Spiel unter Kontrolle halten muss, andererseits aber auch möglichst viel Spielfluss ermöglichen möchte und am Ende nicht derjenige unter den 23 Akteuren am Platz sein will, der die Partie entscheidet..
Dabei darf man aber nicht vergessen: Auch die Ausübung des Fingerspitzengefühls beeinflusst das Spiel: Wenn ich einen Strafstoß oder eine Gelb-Rote Karte nicht gebe, dann wirkt sich das genauso aufs Spiel aus wie wenn ich den Strafstoß oder die Gelb-Rote Karte gebe.

Und das Regelwerk sowie der Spielverlauf setzen dem Schiedsrichter auch immer Grenzen. Ich habe im letzten Jahr ein Relegationsspiel gepfiffen, bei dem ein Spieler schon recht früh für Vor-den-Ball-Stellen Gelb bekommen hat und anschließend noch zweimal gefoult hatte. Ich habe ihm dann im Vorbeigehen gesagt, dass es bei ihm langsam viele Fouls werden und der Trainer hat das scheinbar auch mitbekommen und hat den Spieler irgendwann ausgewechselt. Leider musste er später wieder eingewechselt werden und hat sich kurz nach der Einwechslung noch ein Foul geleistet. Ich habe ihm nochmal im Vorbeigehen gesagt, dass ich bei ihm jetzt wirklich keinen Spielraum mehr habe – und nicht mal eine Minute später macht derselbe Spieler noch ein Foul. Da habe ich dann irgendwann auch keine Wahl mehr und muss den Spieler vom Platz stellen, auch wenn ich schon einen anderen Spieler dieses Teams vom Platz gestellt hatte und ich weiß, dass spätestens die doppelte Unterzahl das Spiel wohl entscheiden dürfte. Da dann auf den Platzverweis zu verzichten, wäre feige und unfair der gegnerischen Mannschaft gegenüber, die schon mehrfach die – ich sage jetzt mal, weil ich kein besseres Wort dafür habe – „Opfer“ dieses Spielers wurden.

Schiedsrichter haben Spielraum für das so genannte "Fingerspitzengefühl". Johannes Gründel, Lehrwart der Forchheimer Schiedsrichter, merkt jedoch an, dass das Hinwegsetzen über das Regelwerk ein No-Go sei.
anpfiff.info

Wie viel Fingerspitzengefühl lässt das Regelwerk überhaupt zu bzw. darf sich ein Referee irgendwann über das Regelwerk hinwegsetzen?

Johannes Gründel: Das Regelwerk selbst gibt dem Schiedsrichter eigentlich relativ viel Ermessensspielraum und damit Fingerspitzengefühl. Was ist „rücksichtslos“, sodass es eine Gelbe Karte geben muss? Was ist „brutal“ oder „übermaßig hart“, sodass es Rot gibt? Das Regelwerk selbst ist da ziemlich unbestimmt.

Aber das ist nicht die einzige Grundlage, auf der wir Schiedsrichter unsere Entscheidungen treffen. Viel wichtiger sind Schablonen- oder Referenzszenen, also Videobeispiele von den Verbänden, die das Regelwerk konkretisieren sollen. Und da gibt es dann beispielsweise solche Szenen, die zeigen, dass ein Foul an einem Spieler, der gerade in den Strafraum zieht – auf neudeutsch „going in the box“ –, im Normalfall wegen des Unterbinden eines aussichtsreichen Angriffs (früher hieß das „taktisches Foul“) Gelb nach sich ziehen muss – und damit unter Umständen halt auch Gelb-Rot. Da hat man dann als Schiedsrichter recht wenig Spielraum für Fingerspitzengefühl. Sich über das Regelwerk hinwegsetzen ist aber ein No-Go. Ein solcher Regelverstoß kann – im Gegensatz zur Tatsachenentscheidung – auch eine Wiederholung des Spiels nach sich ziehen. Denn ein Schiedsrichter kann immer mal Situationen falsch wahrnehmen. Aber dass er die Situationen richtig wahrnimmt, aber sich dann nicht an das Regelwerk hält, sondern sich bewusst darüber hinwegsetzt, entzieht unserem Sport die gemeinsame Grundlage.

Und wenn es eine zwingende Rote Karte ist, dann muss ich die als Schiedsrichter auch geben, egal ob es ein Ligaspiel ist, in dem es 0:0 steht oder 0:10, egal ob es ein Pokalspiel oder ein Freundschaftsspiel ist. Auch wenn ich zugebe: Bei Notbremsen in Testspielen drücke ich in der Regel alle Augen und Hühneraugen zu und suche, ob ich nicht doch noch ein klein wenig Spielraum habe, hier doch noch auf Gelb zu gehen – weil hier eine Rote Karte niemandem etwas bringt, auch die gegnerische Mannschaft hat in der Regel nicht viel davon, gegen zehn Mann (oder Frauen) zu testen. Aber wenn ich keinen Spielraum habe, muss ich auch da Rot geben und kann mich hinterher nur fragen, warum ein Spieler beim Testspiel unbedingt die Notbremse ziehen muss…
Wo ich aber keinen Spaß verstehe und auch im Testspiel keine Augen zudrücke, sind Tätlichkeiten, Beleidigungen und grobe Fouls. Das muss ja nun wirklich nicht sein.

Kann sich ein junger Schiedsrichter, der aufsteigen will, Fingerspitzengefühl überhaupt erlauben?
Johannes Gründel: Ja, kann er im Rahmen des Regelwerks! Wenn er es macht und er behält das Spiel danach unter Kontrolle, dann ist das in der Regel sogar gut und wird ihm positiv angerechnet, weil er Spielverständnis gezeigt hat. Das ist gerade für junge Schiedsrichter gar nicht so leicht, weil die Erfahrung – sowohl am Platz als auch im Leben generell – hier ein wichtiger Faktor ist. Umso besser ist es für den jungen Schiedsrichter, wenn es trotzdem klappt. Aber er muss das Spiel dann auch im Griff haben.

Wenn der Schiedsrichter eine Karte steckenlässt und die Spieler tanzen ihm danach auf der Nase herum, dann heißt es nach dem Spiel: Das war die Schlüsselszene, hier hast Du verpasst, mit einem klaren Signal den Spielern Grenzen aufzuzeigen. Und das ist auch der Punkt, an dem die Spieler beeinflussen können, ob der Schiedsrichter Fingerspitzengefühl anlegen kann oder nicht: Machen sie dem Schiedsrichter das Leben leicht und akzeptieren seine Entscheidungen, dann muss er nicht mit einer Eskalation rechnen, wenn er auf eine Karte, die man geben kann, aber nicht unbedingt muss, verzichtet. Ist das Spiel dagegen aufgeheizt, die Spieler testen die Grenzen des Schiedsrichter ständig aus und die Akzeptanz des Schiedsrichters ist nicht völlig da, dann führt das Steckenlassen der Karte häufig dazu, dass einige Spieler versuchen, das auszunutzen, und das Spiel eskaliert dann.

Man muss kein großer Menschenkenner sein, um sich zu überlegen, in welcher dieser beiden Konstellationen der Schiedsrichter die Karte stecken lässt und in welcher er durchgreift – zumal hitzige Spieler für den Schiedsrichter ja auch Stress pur sind und der Geduldsfaden da auch deutlich dünner ist. Am Ende des Tages sind wir Schiedsrichter ja auch nur Menschen und keine emotionslosen Entscheidungsmaschinen.

Vielen Dank für das Interview!


Der Ermessensspielraum bietet den Schiedsrichtern Platz für das "Fingerspitzengefühl". Dabei darf man nicht vergessen: jeder nicht gegebene Strafstoß oder Gelb-Rote Karte wirkt sich
genauso auf das Spiel aus, wie wenn der Strafstoß oder die Gelb-Rote Karte geben wird.
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