Notbremse Rot oder Gelb?: Dreifachbestrafung entfällt in den meisten Fällen - anpfiff.info
Artikel veröffentlicht am 17.09.2024 um 06:00 Uhr
Notbremse Rot oder Gelb?: Dreifachbestrafung entfällt in den meisten Fällen
"Hey Schiri, letzter Mann! Das war Rot!", heißt es immer wieder auf den Sportplätzen, dabei ist das in vielen Fällen schon lange nicht mehr korrekt. Im Strafraum wurde die so genannte Dreifachbestrafung (Rot, Elfmeter und Sperre) beinahe ganz abgeschafft. Dennoch gibt es weiterhin Fälle, in denen auch im Strafraum die Rote Karte gezeigt wird.
Von Uwe Kellner
Zur Fußball-Europameisterschaft 2016 wurde die Dreifachbestrafung im Strafraum abgeschafft. Das hieß damals, dass bei einem ballorientierten Foulspiel im eigenen Sechzehner die persönliche Strafe von Glattrot auf Gelb reduziert wurde. Heute, mehrere Jahre später, gibt es jedoch bei Zuschauern und Spielern immer noch Regellücken, was die "Verhinderung einer klaren Torchance" (Notbremse) im eigenen Strafraum angeht. Zudem wurde die Änderung in den letzten beiden Jahren nochmals verfeinert. anpfiff.info hat Forchheims Lehrwart Johannes Gründel zurate gezogen, der die Regel mit all ihren Neuerungen nochmals erklärt. 

Guten Tag Herr Gründel, die Reduzierung auf eine Gelbe Karte bei der Verhinderung einer klaren Torchance im Strafraum gab es bis zur Saison 2022/23 nur bei einem ballorientierten Foulspiel, beispielsweise einer Grätsche gegen den Gegenspieler. Bei einem mannorientieren Foulspiel, wie zum Beispiel dem Halten oder Ziehen am Trikot, war trotzdem noch eine Rote Karte fällig. Daran hat sich schon zur Saison 2023/24 etwas geändert?
Johannes Gründel: Ja, aber nur marginal: Es geht jetzt nicht mehr um ball- oder mannorientierte Foulspiele, sondern darum, ob das Foulspiel beim Versuch, den Ball zu spielen, oder zumindest bei einem Zweikampf um den Ball erfolgt. Gerade ungeschicktes „Draufrumpeln“ ist jetzt auch nur noch Gelb. Vereinfacht könnte man sagen: Wenn die Notbremse absichtlich erfolgt, gibt es auch im Strafraum rot, ist sie dagegen fahrlässig, gibt es nur noch gelb. Außerhalb des Strafraums gibt es aber weiter für jede Notbremse rot.

Als Beispiel: wenn ich im Strafraum meinen Gegenspieler durch ein Halten ohne die Chance auf den Ball am Erzielen eines Tores hindere, wird die Strafe nicht reduziert. Es gibt weiterhin die Rote Karte. 

Neben den Notbremsen ohne Zweikampf um den Ball gibt es natürlich auch weiterhin Rot, wenn das Vergehen unabhängig vom Notbremsencharakter rot würdig ist. Wer eine Tätlichkeit oder ein grobes Foulspiel begeht, wird nicht auch noch dafür belohnt, dass er zusätzlich noch eine klare Torchance verhindert; das bleibt also weiterhin rot.

Gibt es auch eine Abstufung der persönlichen Strafe für ein gelbwürdiges Foulspiel im Sechzehner?
Johannes Gründel: Ja, bei der Vereitelung eines aussichtsreichen Angriffs, also quasi der kleinen Schwester der Notbremse, gilt die Reduzierung analog: Erfolgt das Foul im Zweikampf um den Ball, gibt es im Strafraum keine persönliche Strafe (außer, das Foul ist rücksichtslos und damit von der Intensität her gelbwürdig); sonst bleibt es bei Gelb.

"Schiri, das war doch Rot!" Bei einem Zweikampf um den Ball im Sechzehner eben nicht. Dann wird die persönliche Strafe bei einer Notbremse auf Gelb reduziert. Ein Halten oder Umreißen des Gegenspielers ohne Chance auf den Ball bleibt weiterhin Rot.
Uwe Kellner

Und außerhalb des Strafraums? Werden hier auch Spielerstrafen in irgendwelchen Fällen reduziert?
Johannes Gründel: Außerhalb des Strafraums bleibt es in der Regel bei der entsprechenden persönlichen Strafe, ohne dass es zu einer Reduzierung käme. Eine Ausnahme gibt es aber: Wenn der Schiedsrichter Vorteil laufen lässt (oder es ganz selten zu einem sog. Quick Freekick kommt), wird die persönliche Strafe ebenfalls reduziert. Der Hintergrund dieser Ausnahme ist relativ einfach: Bei Vorteil wurde die klare Torchance ja gerade nicht verhindert und es bleibt beim Versuch. Das rechtfertigt eine mildere Strafe. Gerade bei aussichtsreichen Angriffen hat man das ziemlich oft: Ein kurzes Halten im Mittelfeld, das den Konter unterbinden soll: Wenn es zum Foul kommt, gibt es Gelb für das Vereiteln eines aussichtsreichen Angriffs („taktisches Foul“). Kann sich der Spieler dagegen lösen oder den Ball noch weiterspielen, sodass es zum Vorteil kommt, wird der aussichtsreiche Angriff nicht vereitelt, also kann es deshalb auch keine Gelbe Karte geben. Aber weil das noch zu einfach ist, gibt es natürlich auch hier eine Gegenausnahme: Es bleibt bei Gelb, wenn das Foul von der Intensität her gelbwürdig ist, also rücksichtslos ist, und beim sog. „respektlosen Halten“, also wenn der Spieler den Gegner über zwei, drei Meter hält und das Trikot dabei von L zu XL weitet.

Lehrwart der Schiedsrichtergruppe Forchheim, Johannes Gründel, erklärt die Reduzierung von Spielerstrafen im Strafraum.
Uwe Kellner

Mit welchen Strafen haben Fußballer bei einem Handspiel im Strafraum zu rechnen? Johannes Gründel: Hier gab es zur aktuellen Saison eine Regeländerung: Seit der EM 2024 gibt es bei strafbaren Handspielen eine Reduzierung, wenn es „nur“ eine unnatürliche Vergrößerung der Trefferfläche ist. Ist es dagegen ein klassisch absichtliches Handspiel, bei dem also die Hand gerade deshalb zum Ball geht, um den Ball mit der Hand zu spielen, bleibt die persönliche Strafe wie gehabt. Das typische Handspiel auf der Linie wie bei Luis Suarez seinerzeit wäre also weiterhin rot würdig. Das Handspiel von Cucurella im EM-Viertelfinale dagegen hätte keine klare Torchance, sondern höchstens einen aussichtsreichen Angriff verhindert (Abwehr eines Torschusses) – weil es aber nicht gezielt absichtlich war, sondern „nur“ eine unnatürliche Vergrößerung der Körperfläche, gäbe es hierfür keine persönliche Strafe.

Zu diesem Thema gehörend würde ich gerne noch abfragen, wann ein Foulspiel an der Strafraumgrenze als Elfmeter oder Freistoß geahndet wird: Bestimmt der Schiedsrichter den Standort des Foulspiels, wo es beginnt, wo es endet, wo der erste Kontakt stattfindet oder wo der Gegenspieler endgültig zu Fall kommt?
Johannes Gründel: Nicht jeder Kontakt ist ja ein Foul, das heißt, der Schiedsrichter muss bewerten, welcher Kontakt strafwürdig ist. Bei Fußvergehen ist das in der Regel der Kontakt, der ursächlich für die Behinderung oder den Sturz des Gegenspielers ist. Wenn der Schiedsrichter also der Meinung ist, der erste Kontakt (außerhalb des Strafraums) war der ursächliche, dann gibt es Freistoß; geht er dagegen davon aus, der zweite, dritte, letzte Kontakt (im Strafraum) war der ursächliche, gibt es Strafstoß. Und wenn der Schiedsrichter die Szene so bewertet, dass sich der Spieler nur fallen lässt und der Kontakt dafür nicht ursächlich ist („Selbstfaller“), geht’s weiter. Der Erfahrung zeigt: Fällt der Spieler beim Lauf über die Strafraumlinie in den Strafraum hinein, war das Foul meistens außerhalb, fällt er aus dem Strafraum heraus (kommt also vom Strafraum und geht raus, etwa Richtung Eckfahne), war das Foul oft innerhalb.

Wenn ein Spieler den Gegner über die Strafraumlinie hinweg hält (und das Halten auch intensiv genug für ein Foul ist), dann gibt es immer Strafstoß, egal ob das Halten innerhalb beginnt und außerhalb endet oder andersherum. Das ergibt sich letztendlich aus der Vorteilsregel: Wenn das Halten innerhalb beginnt, ahnde ich diesen Teil des Haltens. Wenn es außerhalb beginnt und sich in den Strafraum – Achtung Kalauer – hineinzieht, lasse ich so lange Vorteil laufen, bis das Foulspiel dann im Strafraum ist und ahnde das dann. Voraussetzung ist aber natürlich, dass das Halten im Strafraum überhaupt ein Foulspiel ist.

Entsprechendes gilt auch bei Fußvergehen, wenn der SR davon ausgeht, dass sowohl innerhalb als auch außerhalb des Strafraums ein foulwürdiger Kontakt vorliegt, also beispielsweise der Treffer außerhalb den Angreifer ins Straucheln und der Treffer innerhalb den Angreifer dann zu Fall bringt (oder andersherum). Dann gibt es wegen der Vorteilsregel auch einen Strafstoß. 

Schiedsrichter Johannes Gründel geht ins Detail bei der Regelkunde.
Uwe Kellner

Am Ende noch drei kurze Fallbeispiele. Das Spiel läuft; abseits davon übt ein Verteidiger eine Tätlichkeit gegen einen Stürmer im eigenen Sechzehner aus. Was passiert?
Johannes Gründel: Strafstoß und Rot.

Selbe Situation, Spiel läuft, und ein Spieler, der im eigenen Sechzehner steht, meckert/ beleidigt den Schiedsrichter. Was passiert?
Johannes Gründel: Hier gibt’s nur einen indirekten Freistoß am Tatort, weil Meckern und Beleidigen als verbale Vergehen keinen direkten Freistoß und damit auch keinen Strafstoß zur Folge haben können. Dazu kommt natürlich noch die entsprechende persönliche Strafe, beim Meckern also eine Verwarnung oder eine Zeitstrafe, bei der Beleidigung eine Rote Karte.

Ein Spieler, der außerhalb des Sechzehners steht, spuckt einen Gegenspieler, der im Strafraum steht, an. Was passiert?
Johannes Gründel: Beim Spucken gegen den Gegner ist der Tatort immer der Platz, an dem der Gegner getroffen wurde bzw. getroffen werden sollte, weil ja der Versuch schon strafbar ist. Das hieße dann also Strafstoß und Rot.

Vielen Dank für das ausführliche Interview!

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